FDP, Liberalismus, eine Wahlniederlage und die Klimaerwärmung
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FDP, Liberalismus, eine Wahlniederlage und die Klimaerwärmung 〽️🌵☀️

Zum „FDP-Bashing“ vor der Landtagswahl kam hier ein sehr guter
Leser:innenbrief herein, der nicht vorenthalten werden soll:

Hintergrund: In zwei Facebook-Postings wurde die FDP vor der Wahl von hier ziemlich harsch und durchaus polarisierend angegangen.

„Ich wollte mich mal zum FDP-Bashing der letzten Tage melden, weil ich da eine etwas andere Sicht darauf habe. Grundsätzlich stimme ich dir zu, dass die FDP im Bereich Umwelt- und Klimaschutz viel zu wenig im Programm hat. Ein Grund warum ich bei meiner Stimmabgabe immer am Zweifeln bin… Jetzt im konkreten Fall Niedersachsen Wahl gibt es allerdings mehrere Punkte, die im Zusammenhang mit dem Nicht-Einzug in den Landtag aus meiner Sicht sehr unerfreulich sind.

Wozu führt das Ausscheiden in Niedersachsen? Die AFD hat nun bessere Chancen sich als einzige echte Opposition zu bezeichnen und könnte davon profitieren. Die Auswirkungen in Berlin sind noch viel schlechter, denn jetzt ist die FDP richtig unter Druck. Wozu wird das führen? Sie muss ihr Profil stärken- das wird intern auch schon heftig gefordert. Denn abseits der Umwelt- und Klimapolitik hat die FDP bei den Themen Bürgerrechte, LGTBQ, Abtreibung, Bildung, Digitalisierung durchaus einige gute Seiten, bei denen sie mit SPD und Grünen viel gemeinsam hat und auch schon Einiges umgesetzt wurde
Am heftigsten wird intern gefordert mit den Themen Atomkraftwerken und Schuldenbremse eine Art Opposition innerhalb der Ampel zu sein. Und Scholz muss weiter nachgeben und der FDP ein paar Themen lassen, sonst ist er bald seinen Koalitionspartner los.
Alle Wahlen seit Bestehen der Ampel hat die FDP verloren – da ist jetzt richtig Druck drin.
Das wird dazu führen, dass der Eindruck der Zerstrittenheit innerhalb der Ampel zunimmt und eine nervöse FDP schadet der Stabilität der Koalition und damit der des Landes.
Ich glaube für deine und meine Interessen wäre es besser gewesen, wenn die FDP knapp reingekommen wäre. Denn jetzt muss sie handeln- und das geht eher Zulasten der Themen Umwelt- und Klimaschutz.

Und bringt sie näher an die CDU. Und dann gebe es, bei den aktuellen Umfragen, eigtl. nur noch eine Option Schwarz-Grün mit Merz als Kanzler. Das will sicher keiner von uns beiden. Insofern ist dieses Ergebnis weder für mich noch dich ein Grund zu feiern. Denke ich zumindest…“

Die Antwort darauf:

Lieber xxx,

vielen Dank für Deine Sichtweise, die in der Tat (mit hoher Wahrscheinlichkeit) sehr viel Treffendes enthält.
Der Umgang mit der FDP ist hier ein schwieriges Thema.
Anders als z.B. von vielen Politiker:innen von SPD, GRÜNE & CDU gab es in der gesamten Historie der unterschiedlichen Arten- und Klimaschutzprojekte hier (also hier bei uns) nicht ein einziges Mal eine FDP-Kooperationsanfrage (obgleich diese auf jeden Fall eingegangen worden wäre).
Etliche Inhalte dieser Partei sind (vielleicht) einfach zu weit weg von aktiv handelnden Basisgruppen im Umweltschutz.
Gleichwohl sind natürlich auch hier große FDP-Sympathisanten bekannt, mit denen sich sinnvoll und gut zusammenarbeiten lässt.

Das „FDP-Bashing“ vor der Landtagswahl ist in der Tat ein solches.
Letztlich ist es (gewollt) polemisch, polarisierend und überspitzt – und stellt in gewisser Weise
eine Antwort auf die klassischen „Memes“ in den sozialen Medien dar, welche z.B. Umweltschützer:innen, Anhänger:innen von Parteien links der Mitte, VertreterInnen von FFF etc. als „Verbotsfetischisten“, „Spaßverderber“ und „Angsterzeuger“ darstellt.

In allen überspitzen Darstellungen, egal welcher Richtung, ist (fast) immer ein Körnchen Wahrheit enthalten, so die Meinung hier.

Verschiedene Strömungen und Ausrichtungen der FDP sind hier ein „rotes Tuch“ (witziges Wortspiel ;-)).
So z.B. die Positionierungen von Gero Hocker, Sprecher für Landwirtschaft und Ernährung, der allen Ernstes kurz vor der Verabschiedung des „Insektenschutzgesetzes“
in der letzten Legislaturperiode noch versuchte – mit dem Hinweis auf „mangelhafte wissenschaftliche Daten“ – das Gesetzt zu „kippen“ bzw. zu blockieren.
Da ist z.B. die Thematik des Nicht-Tempolimits, welches Unmengen an CO2 einsparen könnte.
Oder auch ein absurd schlechter Klimaschutz (nach Meinung von hier eher ein gewollter „Nicht-Klimaschutz“) des FDP geführten Verkehrsministeriums (siehe z.B. https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/volker-wissings-sofortprogramm-ist-das-noch-schlechter-klimaschutz-oder-schon-arbeitsverweigerung-a-18ae22f8-09f7-4dc2-9dd0-2640d58cd0b1).
Da ist immer wieder das mantraartig vorgetragene Narrativ, „persönliche Freiheiten dürften auf keinen Fall eingeschränkt werden“.

Zugegebener Weise ein gesellschaftlicher Evergreen in Diskursen der letzten dreißig Jahre.

Mit jedem Zehntelgrad steigender Erderwärmung jedoch wird das Gegenargument gewichtiger: „Freiheit bedeutet immer auch die Freiheit zukünftiger Generationen“.
Bernd Ulrich, der stellvertr. Chefredakteur der Zeit schrieb:
„Jedes verdammte CO2-Molekül, das heute in die Atmosphäre entlassen
wird, führt alsbald dazu, dass gewissermaßen zwei Moleküle eingespart und zugleich die Folgen
des Klimawandels bewältigt werden müssen. Was machen wir heute? Im Cabrio durch
die Landschaft brausen? Was machen wir morgen? Dämme bauen!“ (Ulrich 2019, S.157f.).
„Klimapolitisch gilt also nicht: ‚Je weniger Staat, desto mehr Freiheit‘, sondern ‚Je früher, desto
freier‘. Die Freiheitlichkeit eines ökorealistisch handelnden Staates bemisst sich folglich daran,
ob er zum Erhalt künftiger Optionen beiträgt und ob er zulässt oder gar mithilft, sie zu verringern“
(ebda., S. 160).
Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2021 klargestellt: Wer jetzt nicht das Klima schützt,
der/die zerstört die Freiheit in Zukunft (Schaible, Aufruf am 2.5.2021). Auf den Punkt gebracht:
„Damit erkennt das Bundesverfassungsgericht eine äußerst unangenehme, aber unbestreitbare
Tatsache an: Freiheit wird unter den Bedingungen der Klimakrise zu einem knappen Gut“
(ebda.).

Eine Sichtweise von hier: In Bezug auf zügige Klima- und Umweltschutzpolitik ist die FDP oftmals nicht nur ein vehementer Bremser und Blockierer,
sie ist zudem auch ein Relativierer und Verschlimmerer. Die Frage, welche gesellschaftliche Bedeutung das FDP-Parteiprogramm in Zeiten von Klimaerwärmung noch haben kann/darf/soll, war durchaus ernst gemeint.
Betont werden soll jedoch auch: Der Blickwinkel geschieht hier engfokussiert aus den Themenblöcken des Umweltschutzes.
Ein Blickwinkel aus anderen Bereichen wird natürlich eine andere Sichtweise haben. Und das ist ja auch gut so und völlig ok.

Zu Deinen Positionen: Zustimmung bei etlichen Punkten!
Die Ampel dürfte nun mit hoher Wahrscheinlichkeit destabilisiert werden.
Die FDP wird sich vermutlich stärker mit dem eigenen Profil und der Herausarbeitung eigener Ziele befassen.
Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird dieses dem Umweltschutz einen weiteren Bärendienst erweisen.
Zudem ist eine dem Untergang geweihte FDP ein hohes Risiko für weitere Stimmgewinne der AFD.

Doch welche Alternative gibt es? Nur aus den genannten Positionen die FDP wählen?
Wenn (aus Sicht von hier) der wesentliche Lösungsansatz der FDP in Bezug auf die Klimaerwärmung sich auf Innovationen beschränkt, so ist das zwar durchaus ein wichtiges
Instrument, das alleinig jedoch nicht ausreicht. Nicht ansatzweise, so die Meinung von hier.-
Dass die FDP ein Urgestein demokratischer Willensbildung ist, bleibt davon unberührt.
Und doch (hier wiederholend): Mit jeder neuen Studie zur Klimaerwärmung (nachfolgende Zahlen wurden heute veröffentlicht):

https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/rekordsommer-2022-wie-heiss-werden-die-sommer-in-europa-noch-a-347151a8-9324-429f-bb50-9edb5907177c?dicbo=v2-2d70b3cd0c9cb5f74a0cc4051b433761

…stellt sich die Frage: Welche Bedeutung darf/wird Neoliberale Politik noch haben (können)?
Ein wesentliches Plus der Partei ist mit Sicherheit das Setzen auf „Selbstverantwortung“. Dieses Denken wird in den folgenden Jahrzehnten noch wichtig sein, die Frage stellt sich jedoch, wie diese Verantwortung definiert und interpretiert wird.
Letztlich und zum Glück muss/kann/darf dass ja jeder Mensch für sich selber entscheiden. So bleiben Diskussionen spannend und wertvoll.

Große (riesengroße) Ratlosigkeit herrscht hier bei der Frage, wie es gesellschaftlich gelingen kann, Elemente rechts der FDP „einzufangen“ und „mitzunehmen“?
Offen gesagt: Die AFD wurde hier zwar immer schon abgelehnt und zutiefst verachtet, aber auch irgendwie belächelt und nicht ernst genommen. Das hat sich seit gestern Abend geändert.