Insektenschutzgesetz auf Bundesebene – ein komplexes Thema
Geschrieben:Werter Herr André Berghegger , auch wenn ich vieles Ihrer Politik durchaus schätze – und als richtig und gut empfinde. Die Haltung eines Teiles der CDU (so auch, wie es im Artikel des MK erscheint, Ihre Haltung) zum Insektenschutzgesetz auf Bundesebene emfinde ich in einigen Positionen als unpassend und offen gesagt, der allgemeinen Situation des Artensterbens (in Teilen) als unangemessen gegenüber (mal wieder eine subjektive Meinung). Können wir gerne am Sonntag auf einer sachlicher Ebene in angenehmer Atmosphäre einmal kontrovers diskutieren (bei einigen Bio-Getränken, ich geb „einen aus“ :-)) ;-).
Artikel von heute: https://www.noz.de/lokales/melle/artikel/2240172/andre-berghegger-cdu-im-interview-corona-und-insektenschutzgesetz
Völlige Zustimmung von hier, dass es sich um ein komplexes Thema handelt. Unbedingt richtig wäre es ohne Zweifel, dass Landwirte für Einnahmeverluste entschädigt werden. Völlig richtig auch, dass Naturschutz gemeinsam mit Landwirten gestaltet wird. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die bislang im „Aktionsprogramm Insektenschutz“ gestalteten Punkte der Bundesregierung mehr oder minder „wirkungslos“ bleiben, sofern das Gesetz nicht den Bundestag passiert. Es kann und darf beim besten Willen nicht sein, dass auch vier Jahre nach der Krefelder Studie immer noch kein wirkungsvolles Insektenschutzgesetz auf Bundesebene verabschiedet ist.
Ich stimme diesem Spiegel-Artikel zu, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/julia-kloeckner-insektenschutz-sorgt-fuer-unruhe-in-cdu-und-csu-a-bf1c40ce-1458-4b6b-9bcc-22b2a8946ec5
…dass eine Nicht-Verabschiedung dieses Gesetzes in dieser Legislaturperiode Ihrer Partei (zu Recht) im Wahlkampf um die Ohren flöge (ist nicht so „drohend“ gemeint, wie es klingt, vielmehr eine ganz lapidare Feststellung). Und ganz offen gesagt: völlig zu Recht (meiner Meinung nach). Das Mitleid hielte (man betone den Konjunktiv) sich dann in durchaus engen Grenzen.
Und auch wenn das Insektensterben auf einer Vielzahl von Gründen basiert ist sich die Wissenschaft über die Hauptursachen des Insektensterbens einig:
Settele (2020) fokussiert: „Halten wir also fest: Eine Hauptursache für das Insektensterben ist unsere moderne, hochindustriell strukturierte Landwirtschaft (…). Die Agrarpolitik der EU basiert auf Fördermitteln, die sich zum Großteil nach der Hektaranzahl eines landwirtschaftlichen Betriebes richten.
In der Folge verdrängen Großbetriebe zunehmend Kleinbetriebe. So bekommt die Industrialisierung der Landwirtschaft immer wieder neue Schübe. Hier liegt das größte Problem – und es wird bestehen bleiben, solange enormer Kostendruck auf den Bäuerinnen und Bauern lastet.
Alles, was Insekten helfen würde – Blühstreifen, Ackerbrachen, Hecken, Verzicht auf Pestizide, standortgerechte und vielfältige Frucht- und Sortenwahl, kostet Ertrag. Deshalb müsste Naturschutz stärker belohnt werden, damit einhergehende Verluste kompensiert werden“ (S. 254 f.)
Klar erwiesen ist in der Tat, dass Faktoren der industriellen Landwirtschaftspolitik (nicht zwingend einzelner Landwirte!) schon aufgrund ihres hohen Flächenvolumens eine hohe Mitverantwortung für das Artensterben aufweisen.
„Dabei besteht aus wissenschaftlicher Sicht kein Zweifel an den beiden entscheidenden Hauptakteuren: die industrielle, intensive Landwirtschaft und der Flächenhunger unserer Gesellschaft.
Sie garantieren uns Wohlstand – richten andererseits aber verheerenden ökologischen Schaden an: Monotone, artenarme, mit Chemie überfrachtete Nutzflächen dominieren die Flur; Brachflächen wachsen zu, Grünland wird gedüngt und intensiv gemäht, reaktive Stickstoffverbindungen und Pestizide verbreiten sich überregional und entfalten unselige Wirkungen bis in entfernte Naturschutzgebiete hinein;
Energiepflanzen sollen das Weltklima retten und nehmen Wildtieren gleichzeitig den Lebensraum; Siedlungen und Verkehrsflächen wuchern; artenreiche Resthabitate verinseln, genetische Vielfalt sinkt“ (Segerer, Rosenkranz, 2018, S. 117).
Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung (Globale Umweltfragen) (WBGU) schreibt in seiner am 3.11.2020 von hochrangigen Wissenschaftler*innen veröffentlichten Studie „Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration“: „Gleichzeitig bedrohen die Umweltschäden und andere externe Effekte der industriellen Landwirtschaft die natürlichen Lebensgrundlagen,
trotz aller historischen Anstrengungen von der „Grünen Revolution“ der 1960er und 70er Jahre bis zur Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union (EU). (…) Die Biodiversität erlebt weltweit ein dramatisches, durch den Menschen verursachtes Massenaussterben, das im Ausmaß mit den großen erdgeschichtlichen Aussterbeereignissen verglichen wird. Damit nimmt auch die Kapazität der Ökosysteme erheblich ab, zu Klimaregulierung und Ernährungssicherung beizutragen“ (S.1).
„Nachweislich trägt die ökonomische Logik der agrarischen Systeme eine Hauptverantwortung am Insektensterben, das nur die Spitze des schmelzenden Eisbergs ist.
So gut wie alle Erkenntnisse der Wissenschaft belegen, dass der Rückgang in den vergangenen dreißig bis fünfzig Jahren stattgefunden hat, in denen die Landwirtschaft eine bis dahin nicht gekannte Intensivierung erfahren hat“ (Settele 2020, S. 42).
„Der Weltbiodiversitätsrat (IPBES) weiß es, die EU weiß es, die deutsche Bundesregierung weiß es, alle Umwelt- und Naturschutzverbände wissen es und laut einer Umfrage wissen es auch 90% der Bürger hierzulande:
Der Insektenschwund hat (…) ein gewaltiges Ausmaß angenommen, und als die eine wesentliche Ursache gilt die großräumige, intensive, auf immer weniger Pflanzen beschränkte und von Agrarchemie (…) beherrschte Landwirtschaft“ (Segerer, Rosenkranz 2019, S. 169).
….ohne besonderen Aufwand könnten hier aus nationaler/internationaler Fachliteratur noch noch eine Fülle weitere Quellen genannt werden.
Das Insektensterben jedoch ist ein Graus – es ist seit Jahren bekannt. Bei allem Respekt empfinde ich es als angst- und besorgniserregend (und ehrlich gesagt auch ein Stück weit als beschämend), dass es auf Bundesebene immer noch finale Bundestagsentscheidung hierzu gibt.
Nur ganz kurz einige Fakten: In der vor einigen Jahren veröffentlichten Krefelder Studie wird nachgewiesen, dass die Gesamtbiomasse der Insekten in vielen Gegenden Deutschlands zwischen 1989 und 2016 um etwa 75% sank (Hallmann et al. 2017). Aufhorchen ließ zudem eine Untersuchung von Seibold et al. (2019), welche in unterschiedlichen Regionen Deutschlands einen massiven Insektenschwund benennt. Den größten Schwund stellten die Forscher*innen auf den Grünlandflächen fest, die in besonderem Maße von landwirtschaftlichen Flächen umgeben sind.
Mittlerweile reichen für viele insektenfressende Vogelarten die verfügbaren Insekten nicht mehr aus, um ihre Jungvögel erfolgreich aufzuziehen (Berthold 2017). Segerer und Rosenkranz (2018, S. 60) heben hervor, dass in Bayern in den Jahren zwischen 1971 und 2000 mehr Schmetterlingsarten ausstarben (226) als in den vorausgegangenen 200 Jahren (191). In den Fluren Deutschlands gingen (auch als Folge des Insektensterbens) seit 1980 mehr als die Hälfte des Bestandes (55%) aller Vogelarten verloren. Zwischen 1998 und 2009 ver-schwanden in Deutschland etwa 12,7 Millionen Brutpaare (ebda., S. 77).
Im Weserkurier ist zu lesen: „Für Schmetterlingskundler ist das Jahr 2020 in Mecklenburg-Vorpommern ein Katastrophenjahr. Bis auf Tagpfauenauge und Kohlweißling, Admiral und Kleinen Fuchs, wenige Distelfalter und Bläulinge seien kaum Tagfalter zu sehen, sagte der Greifswalder Schmetterlingskundler Volker Wachlin der Deutschen Presse-Agentur. Diese Schmetterlinge seien Ubiquisten, also Arten, die nur geringe Ansprüche an ihre Lebensräume stellten“ (Weserkurier online, Aufruf am 15.2.2021).
Insekten sind in sowohl globalen als auch regionalen Nahrungsketten überaus wichtig. Als Nahrungsquelle sind sie für Spinnen und andere Gliederfüßer, Amphibien, Fische, Reptilien, Vögel und Kleinsäuger elementar, sie stellen somit eine „Schlüsselgruppierung“ der Biodiversität dar. Darüber hinaus sind sie das wesentliche Bestäubungsmedium in der Natur. Als „Bestäuber“ sind 90% der Blütenpflanzen (ca. 80% der Nutzpflanzen) auf Bestäubung durch Insekten angewiesen. Eine Artenvielfalt unter den Insekten ist massiv wichtig für die Ernährung der Menschheit. Etwa drei Viertel unserer Nutzpflanzen sind ausschließlich oder vornehmlich auf Insektenbestäubung angewiesen (vgl.: Segerer, Rosenkranz 2018, S.36). Ohne Insekten droht Mangelernährung bzw. Hungertod. Zudem sind Insekten elementar für fruchtbare Böden und sauberes Wasser. Ohne sie gäbe es einen Zusammenbruch von Stoffkreisläufen in der Natur. Ein Beispiel dafür sind im Boden lebende Insekten, die dazu beitragen, dass Bio-masse kompostiert wird. Die Ernährung des Menschen wird durch den massenhaften Schwund von Insekten gefährdet.
„Der globale Wert der Bestäubung für die Ernteeinträge schlägt – die Zahl variiert je nach Berechnungsmethode – mit 235 bis 577 Milliarden US-Dollar zu Buche“ (Settele 2020, S 19).
Mich macht es persönlich traurig, es verärgert mich und es nimmt mir in Teilen der Glauben „an die Politik“, dass hier immer noch in ungenügendem Maße gehandelt wird.
Ein kleiner Blick in die Literatur (nicht direkt auf SIE bezogen, aber doch im Allgemeinen nicht uninteressant):
Im Insektenatlas 2020, einem absoluten Standardwerk zum Insektensterben, widmet sich ein ganzes Kapitel dem klassischen Polit-Dilemma. Gut auf den Punkt gebracht steht dort: „Vollmundige Versprechen und unzulängliche Taten. Das dramatische Insektensterben und seine möglichen Auswirkungen auf Mensch und Natur sind wissenschaftlich belegt. Doch die Politik reagiert nur zögerlich und scheut zu häufig den Konflikt mit der Agrarindustrie“ (Heinrich-Böll-Stiftung, Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Le Monde Diploma-tique 2020, S. 36).
Ulrich (2019) schreibt: „Zunehmend zornig macht mich auch die Feigheit der Politik vor den kurzfristigen und kurzsichtigen Profitinteressen einiger Industrien, oder dass auch da immer wieder mit vielen Steuermilliarden Technologien gefördert werden, wo eine Verordnung durchaus genügen würde“ (…) (S. 39). Und Seger und Rosenkranz (2018, S.121) bemerken präzise: „Ihr Versagen bezüglich einer gerechten und effizienteren Verteilung produzierter Nahrungsmittel und ihr Kniefall vor den Lobbyisten einer nicht-nachhaltigen Wirtschaft – das ist der ökologische Sündenfall der Politik. Obwohl die Hauptverursacher der Biodiversitätskrise bekannt sind, werden sie – sicher nicht zuletzt unter dem Aspekt von Wählerstimmen – mit Samthandschuhen angefasst. Die Natur, von der wir alle abhängen, interessiert sich aber nicht für Wahlen.“
„Und hier steht auch die Politik in der Verantwortung. Denn die Auswüchse der industriellen Landwirtschaft und des Flächenverbrauchs, die (…) zu den Hauptursachen der Lebensraumverluste für Pflanzen und Tierwelt gehören, erfolgen im Rahmen von Recht und Gesetz (ebda., 119f.).
Peter Berthold betont: „Mit den bisher in Deutschland praktizierten Maßnahmen ließ und lässt sich unsere Artenvielfalt nicht retten. Sie stellen schlicht eine nationale Strategie in die Artenarmut dar“ (Berthold 2017, S. 144).
Zornig und fassungslos macht all dieses zuweilen, da die Fakten doch klar und deutlich und für alle einsehbar „auf dem Tisch“ liegen. Die Wissenschaft, eine der wichtigsten Stützen der unabhängigen Demokratie, liefert diese in tausenden Studien.
Und Busse (2019, S. 265) zitiert die GRÜNE Bundestagsabgeordnete Steffi Lemke: „Es könne nicht sein, stellte sie klar, dass die Politik ihre selbst gesetzten Ziele immer wieder verfehle und sich dann achselzuckend eine neue Deadline setze und das Ziel einfach in die Zukunft verschiebe. Es könne auch nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft sein, die Politik zu verklagen, weil die nicht genug tut, um ihre selbst gesteckten Ziele zu erreichen. Diese Haltung führt zu einem gefährlichen Vertrauensverlust. Wie sollten die Bürgerinnen und Bürger die Politiker ernst nehmen, wenn die so gefährlich fahrlässig über ihre eigenen Ziele hinwegsehen? Das gefährde die Demokratie.“
Irrsinnigerweise gibt es sogar schon eine Vielzahl von Vereinbarungen, Gesetzen und Abkommen. Ihre Auswirkungen gegen das Artensterben? Mangelhaft!
Ende 1992 warnte die „Union of Concerned Scientists“ und veröffentlichte die „Warnung der Wissenschaftler der Welt an die Menschheit“, unterzeichnet durch 1700 Wissenschaftler. Betont wurde, dass Mensch und Natur sich auf einem Kollisionskurs befinden. Menschliche Aktivitäten verursachen schwere und oft irreversible Schäden an der Umwelt und an kritischen Ressourcen. 25 Jahre später folgte die zweite Mitteilung zu dem Appell von 1992 (15.000 Wissenschaftler aus 184 Staaten waren hierbei beteiligt). 2019 folgte die dritte Warnung (11.000 Wissenschaftler aus 153 Ländern). Erneut war die Rede davon, dass schnell gehandelt werden müsse, um „unsägliches, unmenschliches Leid“ zu verhindern. „Obwohl global seit 40 Jahren verhandelt wird, haben wir weiter gemacht wie vorher und sind diese Krise nicht angegangen“, schrieb Initiator William Ripple (nach Settele 2020, S.296f.).
Frau Göpel (2020, S. 134) ist eindeutig zuzustimmen, wenn sie plädiert:
„Wir brauchen einen Politikwandel, der Nachhaltigkeit nicht als mögliches Nebenprodukt einer ökologischen Wachstumsagenda behandelt, sondern direkt auf nachhaltiges Konsumieren, Produzieren und Investieren zielt.“ Und Ulrich (2019, S.199) bringt es auf den Punkt: „Es hört sich vielleicht nicht gut an, stimmt aber trotzdem: Demokratische Politik bedeutet, die soziale und ökologische Muskulatur des Einzelnen zu entlasten – jedenfalls teilweise. Politik hat die Aufgabe, das Richtige zur Struktur werden zu lassen, das Gebotene zu gebieten.“
Eine subjektive Meinung: Eine weitere Verzögerung des Insektenschutzgesetzes auf Bundesebene ist nicht akzeptabel, nicht vermittel- und nicht hinnehmbar.